Der Autor von elf Gedichtbänden, vielen Übersetzungen und Mitherausgeber einer Anthologie zeitgenössischer brasilianischer Lyrik gehört zu den innovativsten Schriftstellern Brasiliens. Seine Lyrik verbindet ausdrucksstarken und verbindlichen Lyrismus mit den Geschicken poetischer Konstruktion. Seine Gedichte zeichnen sich durch Natursymbolik ebenso aus wie durch die Dystopie städtischen Raums, vor allem São Paulos, wo er lebt. Während seine Gedichte häufig erzählerische Passagen enthalten, konzentriert sich ein Großteil seines Werks auf das Spiel von Klang und Syntax, von Reim und starken rhythmischen Wechseln.
Seine vielen Publikationen umfassen »Ossos de borboleta«, »33 poemas«, »Más companhias«, »Remorso do cosmos«, »Primeiro tempo« und das Kinderbuch »Num zoológico de letras«. Eine ins englische übersetzte Werkauswahl findet sich im Band »Sky Eclipse« (2000, Green Integer). Bonvicino das Werk des argentinischen Lyrikers Oliverio Girondo übersetzt und herausgeben, ebenso wie Bücher von Jules Laforgue, Robert Creeley, Charles Bernstein und Douglas Messerli. Er ist Herausgeber der Korrespondenz Paulo Leminskis und ist besonders den Arbeiten der brasilianischen Dichter Carlos Drummond de Andrade, Decio Pignatari, und João Cabral de Melo Neto verbunden.
Bonvicino ist Mitherausgeber der digitalen Literaturzeitschrift Sibila. Siehe auch regisbonvicino.com.br und seine Seite auf PennSound.
Er hätte plötzlich ein Messer in der Hand haben können, auf dem Gehsteig, hieß es. Es gibt Ränder, von Lichtern gesäumt. Kubische Gebäude bewegen sich unter Arkaden von Kapoks. Verstorbene Ecken? – Prosagedichte von Régis Bonvicino, übersetzt von Léonce W. Lupette, sowie mit mehrstimmigen englischen Übersetzungen.
KARAWA.NET ERSCHEINT ZWEIMAL JÄHRLICH / ISSN 2192-1954
Häuser ohne Besitzer
Er hätte plötzlich ein Messer in der Hand haben können, auf dem Gehsteig, hieß es. Es gibt Ränder, von Lichtern gesäumt. Kubische Gebäude bewegen sich unter Arkaden von Kapoks. Verstorbene Ecken? – Prosagedichte von Régis Bonvicino, übersetzt von Léonce W. Lupette, sowie mit mehrstimmigen englischen Übersetzungen.
031197
Ich lebe ebenfalls auf den Straßen. Eine Kippe hinterm Ohr und ein Ascher – in der Hand. »Du siehst nicht so aus als lebtest Du auf den Straßen.« Ein Stück Zahn im Mund. In diesem Augenblick plünderten Gebäude Schatten, schlaflos, gebaren Kobras. Er hätte plötzlich ein Messer in der Hand haben können, auf dem Gehsteig, hieß es. Es gibt Ränder, von Lichtern gesäumt. Kubische Gebäude bewegen sich unter Arkaden von Kapoks. Verstorbene Ecken? Und, unter einem Bogen, downtown, geschwollene Lampen, bemessen den Horizont. Rennen Stimmen kreuz und quer, stumm, und ein Quieken, vielleicht, eines Waschbärs. Nachmittags, kläffende Krähen in den Bäumen, abrupter Kaktus des Hauses. Landstraßen leiten die Nacht. Fast neben Johnnie’s
Coffee Shop, mit seinem unbeschwerten Lichterspiel. Mauern zucken nicht zusammen wie Schlaf. Weiß & Türkis. Dämmerung, reglos, im Zimmer.
Häuser ohne Besitzer
Für Lucio Costa
Scheinwerfer – Holzkiste, Bretterwand, ein Sofa – Beutel, wo der Kopf, vielleicht Deckung. Halbmauer, das Gartenreich, Feldspat: Kopf auf den Stein gelegt – in die Nacht blicken, tief, zur Straße, blind. Sich niederlassen, auf einer niedrigen Mauer, an der Kippe ziehen, sichtbar, für alle Passanten – Variation des Hauses, unter der Markise vorn, wo er schläft, immer. Bloßen Rückens, auf den gekreuzten Armen der Kopf: rote Decke zwischen Körper und Stufe – Kübel bietet Schatten, Raster von Weiß und Blau, auf dem Gehsteig, unter dem Stoff. Noch eine Schachtel, entleert, als Stuhl. Die Straße, eng, als Tür, kreuzt. Nachmittagslicht: die Treppe als Zimmer, unter Dachbalken-Bäumen – darüber, aus weichem Plastik, ein weißer Stuhl – Busch, Gebäude, Veranda.
171196
1
Nie lebte ich in einer Straße namens Glas. Einmal habe ich einen Pflasterstein gebolzt. Jeder Tag zog vorbei wie in einem Spiegel – von Echos. Telephone, Kabel. Einmal bin ich Boot gefahren, auf einem See. Nie habe ich mich in meiner eigenen Spiegelung gesehen. Reden, Gespräche – eine einzige Figur und Person. Stummer Lautsprecher. In einem winzigen Appartement habe ich ebenfalls gelebt. Mir gefällt der Name der Straßen einiger Freunde. Amherst, Mílvia, Sírius. Ich habe keine Zeit für nichts. Meine Haare sind ausgefallen. Vielleicht ist das
alles.
2
Meine Vorfahren kamen aus Italien. Sizilien. Neapel. Venedig. Alessandro Bonvicino – Il Moretto. Auch aus Pontevedra, in Galizien. Meine Vorfahren, mütterlicherseits, kamen aus Minen. Mein Name: mein Vater hat ihn von einer Visitenkarte.
3
Ich bin nie durch eine Straße namens Schere gegangen. Ein Tausendfüßler bewegt sich, über Abkürzungen. Ameisen fallen ins Auge. Giuliano Della Casa, Wasser und Tinte, mag die Gemälde von Alessandro Bonvicino. Giuliano lebt in Modena, Via Sant’Agostino 33. Einige Jahre verbrachte ich eingeschlossen, genau hier, in einem Zimmer. Es gibt eine Straße namens Schere. Inhambu ist der Name eines Vogels. Ich nehme gerne Aspirin und Schlafmittel. Eine Lichtwelle verlässt mich jetzt – wie ein Streichholz, vor dem Aufbrechen. Es gibt eine Sonne und einen Mond, gleichzeitig, auf dem Wilshire-Boulevard. Sabine Macher lebt in der rue de Paradis 7b. Jemand lebt im Legion Drive. Der Fahrradreifen ist kein Kreis. Es gibt eine Allee namens Precita. Der Himmel, gestern, war krumm.
4
Wir sehen uns später. Davids elf Jahre alter Sohn mag Briefmarken aus fremden Ländern. Jemand veranstaltet einen garage sale, in diesem Augenblick. Mir war nicht danach, die Fügsamkeit der Blumen zu beklagen, heute morgen. Ebenso sah ich keinen schlanken Vogel, Insekten fressend, heute morgen.
Jemand lebt in der Gumtree Terrace. Das Wasser fließt zum Meer. Der Mond bleibt nicht voll an einem Tag. Es gibt eine Straße namens Lepic. Es gibt eine weitere, Lindero Nuevo Vedado. Dieser Gehsteig ist schmutzig. Sweet William ist der Name einer Blume. Elephanten spinnen keine Nadelspitzen.
5
Vielleicht habe ich in einer Straße namens Sí dar gelebt. Es gibt eine Straße namens Campeche. Rose und Andy leben ganz bestimmt in der Cedar Street. Äpfel bedeuten gar nichts. Es heißt es gebe ein Beruhigungsmittel speziell für Schlangen. Niemand erklärt bestimmte Ausdehnungen von Grün. Große Bäume spenden keine Früchte, höchstens Schatten. Mammutbäume und Muscheln machen die Menschen verrückt. Eine Frau forscht nach, am Telephon. Es gibt eine Straße namens Zeder. Bußen billigen Tage und Drähte. Statuen
sind Teil
des
Universums
031197
Eu também moro nas ruas. Uma ponta de cigarro na orelha e um cinzeiro – na mão. “Você não parece morar nas ruas”. Um caco de dente na boca. Naquele instante, edificios saqueavam sombras, insones, parindo cobras. Ele poderia subitamente ter sacado a faca, na calçada, disseram. Há margens debruadas de luzes. Edificios cúbicos movendo-se sob arcadas de samaúmas. Esquinas defuntas? E, sob um arco, down town, lâmpadas inchadas medindo o horizonte. Correm vozes de guaxanim. De tarde, corvos latindo nas árvores e cacto abrupto de casa. Estradas guiando noites. Quase ao lado do Johnnie’s Coffee Shop, com seu leve jogo de luzes. Paredes não se encolhiam como sono. Acqua & branco. Alba imóvel dentro do quarto.
Casas sem dono
para Lucio Costa
Fato!—caixa de madeira, parede de viga, um sofá—sacos, onde a cabeça, talvez abrigo. Meia-parede, o domínio do jardim, feldspato: cabeça reclinada na pedra—olhar, profundo, à noite, para a rua, cega. Largar-se, num muro baixo, tragando o cigarro, à vista, para quem passa—variação da casa, sob o toldo em frente, onde dorme, sempre. Dorso nu, braços cruzados à cabeça: colcha vermelha entre o corpo e o degrau — vaso oferecendo sombra, trama de branco e azul, na calçada, sob a lona. Outra caixa, vazada, como cadeira. A rua, estreita, como porta, atravessando. Luz da tarde: a escada-passagem como quarto, sob árvores-frechais — acima, de plástico leve, cadeira branca — arbusto, prédio, varanda.
171196
1
Nunca morei numa rua chamada Vidro. Chutei uma vez paralelepípedos. Cada dia passava como se num espelho — de ecos. Telefones, fios. Uma vez andei de barco num lago. Nunca me vi em meu próprio reflexo. Falas, conversas—uma só figura e pessoa. Alto-falante mudo. Também morei num apartamento minúsculo. Gosto do nome das ruas de alguns amigos. Amherst, Mílvia, Sírius. Não tenho tempo para nada. Meus cabelos caíram. Tal vez isto seja tudo.
2
Meus antepassados vieram da Itália. Sicília. Nápoles. Veneza. Alessandro Bonvicino — Il Moretto. Também de Pontevedra, na Galícia. Meus antepassados, de mãe, vieram de minas. Meu nome: meu pai tirou de um cartão de visita.
3
Nunca passei por uma rua chamada Tesoura. Uma lacraia se move, por atalhos. Formigas caindo no olho. Giuliano Della Casa, água e tinta, gosta dos quadros de Alessandro Bonvicino. Giuliano vive em Modena, via Sant’ Agostino, 33. passei alguns anos fechado, aqui mesmo, num quarto. Há uma rua chamada Tesoura. Inhambu é o nome de um pássaro. Gosto de tomar aspirinas e hipnóticos. Uma onda de luz me abandona agora — como a um fósforo, antes de partir. Há um sol e uma lua, ao mesmo tempo, no Boulevard Wilshire. Sabine Macher mora no 7 bis rue de Paradis. Alguém mora na Legion Dr. O pneu da bicleta não é um círculo. Há uma avenida chamada Precita. O céu, ontem, estava oblíquo.
4
Vejo você mais tarde. O filho de onze anos de David gosta de selos estranhos. Alguém está fazendo garage sale, neste momento. Não senti uma queixa abafada na docilidade das flores, esta manhã. Também não vi um pássaro esguido, comendo insetos, esta manhã.
Alguém mora em Gumtree Terrace. A água corre para o mar. A lua não fica cheia em um dia. Há uma rua chamada Lepic. Há uma outra, Lindero Nuevo Vedado. Aquela calçada está suja. Sweet William é o nome de uma flor. Elefantes não fiam pontas de agulha.
5
Talvez tenha morado numa rua chamada Sí dar. Há uma rua chamada Campeche. Rose e Andy moram com certeza na Cedar Street. Maçãs não significam nada. Dizem que existe um sedativo especial para lesmas. Ninguém explica certas expansões do verde. Árvores grandes não dão frutos, apenas sombra. Sequóias e conchas enlouquecem os homens. Uma mulher esmerilha, pelo telefone. Há uma rua chamada Cedro. Cilícios consentem dias e arames. Estátuas
fazem parte
do
universo
110397
Me too I live in the streets. Cigarette butt behind my ear, ashtray – in my hand. “You don’t look like you live in the streets.” Fragments of tooth in mouth. That instant, buildings were plundering shadows, sleepless, birthing snakes. They said, on the sidewalk he would have suddenly pulled a knife. Curbs edged by lights. Cubic buildings swaying beneath arcades of samaune. Dead corners? And downtown, under an arch, swollen lights measuring horizon. Mute voices race by in confusion and a growl, maybe a raccoon. Afternoon, crows cawing in the trees, squat cactus by the house. Highways guiding nights. Close by Johnnie’s Coffee Shop, its faint play of lights. Walls don’t shrink like sleep. Aqua and white. Motionless dawn inside the room.
(Ü. Michael Palmer)
Ownerless Houses
for Lúcio Costa
Traffic light – wooden box, slat walls, a sofa – bags, maybe to shelter the head. Hald-wall, garden’s realm, feldspar: head leaning against stone – looking deep into night, the street, blind. Lounging on a low wall, dragging at a cigarrette, in sight of passerby, houseing variant, under the awning in front where he always sleeps. Bare back, head in crossed arms: red bedspread between body and step – flowerpot casting shade, white and blue weave, under canvas on the sidewalk. Another box, emptied out,
as chair. The narrow street, crossing, as door. Afternoon light: stairway as room, treeroot-groundsill below – above, white chair of fragile plastic – bush, building, veranda.
(Ü. Michael Palmer)
111796
1
I have never lived on a street named Glass. Once I kicked crosswalks. Each day passed as in a mirror ––echos. Telephones, wires. Once I took a boat out on a lake. I’ve never seen myself in my reflection. Words, conversations––only one character, one person. Megaphone mute. I’ve also lived in a miniscule apartment. I like the name of the streets of some of my friends. Amherst, Milvia, Sirius. I don’t have time for anything. My hair fell out. Maybe this is it.
2
My ancestors came from Italy. Sicily. Naples, Venice. Alessandro Bonvicino.–– Il Moretto. Also from Pontevedra in Galicia. My maternal ancestors came from mines. My name: my father took it from a business card.
3
I’ve never run across a street named Scissors. A centipede moves sideways. Ants fall in the eye. Giuliano Della Casa, water and paint, likes the paintings of Alessandro Bonvicino. Guiliano lives in Modena, Santa Agostino Street 33. I spent some years, right here, closed up in a room. There is a street called Scissors. Inhambu is the name of a bird. I like to take aspirin and opiates. A light wave abandons me now – as a match,
before leaving. There is a sun and a moon, all at once, on Wilshire Boulevard. Sabine Macher lives at 7 Paradise Street. Somebody lives on Legion Drive. The bicycle tire is not a circle. There is an avenue called Precita. The sky, yesterday, was overcast.
4
I’ll see you later. David’s eleven year old son likes foreign stamps. At this very moment, someone is having a garage sale. I didn’t feel like complaining for the docileness of flowers this morning. I also didn’t see a thin bird, eating insects, this morning. Someone lives on Gumtree Terrace. The water runs to the sea. The moon doesn’t fill in during day. There is a street called Lepic. There is
another, Lindero Nuevo Vedado. That sidewalk is dirty. Sweet William is the name of a flower. Elephants don’t thread needles.
5
Perhaps I have lived on a street called Si Dar. There is a street called Campeche. Rose and Andy, certainly, live on Cedar Street. Apples mean nothing. They say that a special sedative exists for snails. Nobody explains certain expanses of green. Large trees don’t bear fruit, just shade. Sequoias and shells drive men insane. A woman investigates by phone. There is a street called Cedro. Cecilia senses the millennia and wires. Statues
are part
of the
universe
(Ü. Jennifer Sarah Cooper,
Scott Bentley, and Douglas Messerli)